Plan B

"Kinderwunschbehandlung hat den Charakter eines Glücksspiels, das süchtig machen kann," sagt Professor Dr. Tewes Wischmann, Leiter der Arbeitsgruppe gynäkologische Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg*. Ich kann das aus persönlicher Erfahrung und zu 100 Prozent bestätigen. Denn obwohl wir uns im Vorfeld auf unseren Plan B geeinigt haben und ganz klar festgelegt haben, was wir machen wollten und was nicht, war der Sog der Hoffnung auf ein Wunschkind stärker. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass wir damit die Regel und nicht die Ausnahme sind. Wir haben mehr gemacht als ursprünglich vereinbart. Wir haben Behandlungsmethoden ausprobiert, die wir vorher ausgeschlossen haben. Wir haben das festgelegte finanzielle Budget einfach gesprengt. Der Motor war die Überzeugung, dass das Glück ja kommen muss, wenn wir lange genug durchhalten, uns weiter anstrengen, noch mehr Zeit und Geld investieren. Ich kann hier nur für mich sprechen: Meine Urteilskraft war zu dem Zeitpunkt nahezu ganz ausgesetzt. Ich war emotional gesteuert und nicht in der Lage, klar zu denken, geschweige denn, einfach auszusteigen. Es gibt immer diese wundervollen Beispiele, die Hoffnung machen. Menschen, bei denen es nach jahrelanger Anstrengung mit dem Kinderwunsch geklappt hat. Kann das Wunder nicht auch bei mir passieren? Habe ich das durch den jahrelangen Kampf und die Anstrengung nicht gewissermaßen verdient?

 

Die Chancen, durch eine IVF und ICSI ein Kind zu bekommen, liegen pro Behandlungszyklus durchschnittlich bei 15-20 Prozent. Auch nach drei Durchgängen nimmt mehr als die Hälfte der Paare kein Kind mit nach Hause. Bei uns war die Chance auf das Wunschkind aufgrund individueller Gegebenheiten nicht einmal halb so hoch. Prof. Dr. Wischmann rät, schon zu Beginn den Behandlungszeitraum zu begrenzen oder eine bestimmte Anzahl von Versuchen für den Plan A festzulegen. "Denn die Reproduktionsmedizin verleitet dazu, immer wieder zu hoffen, egal wie minimal die Chancen auf eine Schwangerschaft sind." Er rät Paaren, schon vor der Behandlung einen Plan B zu entwerfen, der sich mit der Frage beschäftigt, was sie tun wollen, wenn die Behandlung nicht zum gewünschten Erfolg führt.* Sich mit alternativen Möglichkeiten wie Adoption, Pflegeelternschaft, Behandlungsmethoden im Ausland oder der Annahme der Kinderlosigkeit auseinanderzusetzen, kann helfen, individuelle Alternativen zu entwickeln.

 

Beide Ratschläge haben wir - ohne damals davon zu wissen - befolgt. Am Ende hat der Plan B, den wir zwar nicht ganz so eingehalten haben, seinen Zweck dennoch erfüllt. Ich bin sehr froh, dass wir ihn zu einem Zeitpunkt aufgestellt haben als wir noch keine Ahnung hatten, was auf uns zukommen wird. Wir wussten noch nicht, wie emotionsgesteuert wir dann sein werden. Viele Paare - dazu zählen auch wir - unterschätzen die Belastung durch die Kinderwunschbehandlung. Der Plan B war unser Rettungsseil. Es war gut, dass wir etwas hatten, worauf wir zurückgreifen konnten. Wir konnten uns dadurch besser in Erinnerung rufen, warum wir einen Alternativplan aufgestellt haben und wie wir zu den jeweiligen Entscheidungen gekommen sind. Das Besinnen auf den Plan B und das Vertrauen, dass er uns trägt, haben es uns ermöglicht, der aufkeimenden "Sucht" nach weiteren Behandlungsversuchen trotz minimaler Chancen etwas entgegenzusetzen. Es hat geholfen, aus dem "Baby-Glücksspiel" auszusteigen. Die Erleichterung, die sich bei mir eingestellt hat, als wir die Entscheidung endgültig getroffen haben, war enorm. Wir haben die Trauer und den Schmerz darüber, eine Familie ohne Kinder zu sein, zugelassen und angenommen. Endlich wurde aus dem gereizten, hormongesteuerten und emotionalen Nervenbündel wieder ich selbst.

 

Unser Aufgeben ist kein Verrat an unserem Wunschkind. Unser Wunsch, eine Familie mit einem Kind zu sein, war nicht weniger stark als bei anderen Paaren. Wir haben durch das Loslassen nach einem jahrelangen Kampf "ja" gesagt zu einem Leben im Hier und Jetzt, ohne Kinder und mit allen Konsequenzen, die daraus resultieren. Es ist unsere Alternative für ein erfülltes und glückliches Leben. Ich bin überzeugt, dass wir auf unterschiedliche Arten gleichermaßen glücklich werden können. Menschen sind sehr anpassungsfähig. Manchmal können wir uns Dinge nicht vorstellen, bis wir sie erleben. Ich bin froh, dass wir den Plan B in der Tasche hatten, uns mit allen für uns denkbaren Alternativen offen und ehrlich auseinandergesetzt haben und dass wir die Entscheidung für ein Leben ohne Kinder gemeinsam und bewusst getroffen haben.

 

*Quelle: Zwischen Hoffen und Bangen in der Zeitschrift Eltern, Kinderwunsch Ausgabe Juni-November 2020